Metzingen Die „Jungen Europäer“ wollen den Kontinent nicht den Brandstiftern von rechts und links überlassen. Sie kämpfen für eine bürgernahe, föderale, friedvolle Gemeinschaft. Der 23 Jahre alte Jan-Philipp Scheu ist einer von ihnen. Er hofft, dass am 26. Mai viele Bürger zur Wahl gehen. Von Regine Lotterer

Vergangene Woche ist Jan-Philipp Scheu der Kragen geplatzt. Die nicht enden wollende Debatte um den Brexit hat den Geduldsfaden des 23-Jährigen reißen lassen. Denn eine Verschiebung des Austritts kommt für den Kreisvorsitzenden der „Jungen Europäer Reutlingen“ nicht in Frage. Scheu denkt dabei vor allem an die bevorstehende Europawahl.
Wenn die Briten ebenfalls an die Urnen gerufen werden, würde der Streit, der das Vereinigte Königreich gerade zerreißt, mitten hinein ins EU-Parlament getragen. Damit stünde auch der Brexit weiter ganz oben auf der politischen Agenda Europas. Dabei, sagt Scheu, gebe es viele andere Themen, denen sich die EU widmen müsse, um sich den kommenden Herausforderungen zu stellen. Die „Jungen Europäer“, die in mehr als 30
Ländern des Kontinents vertreten sind, haben den Wahlkampf bereits begonnen. Auch im Kreis Reutlingen wollen sie mit Demos, Aktionen und Flyern für eine Stimmabgabe werben.

Herr Scheu, warum sollen die Briten die EU
so schnell wie möglich verlassen?

Jan-Philipp Scheu Die Briten haben sich leider dafür entschieden, aus der EU auszutreten. Das muss nun auch umgesetzt werden. Wir brauchen dringend eine Entscheidung vor der Europawahl. Wenn die Engländer mit abstimmen, dann sitzen da Leute im Parlament, die in drei Wochen vielleicht wieder draußen sind. Was passiert dann mit den Sitzen? Bleiben die leer? Wer rückt nach? Das sind alles ungeklärte Fragen.

Sie sind von der ewigen Brexit-Debatte genervt?

Allerdings. Ich bin aber ganz sicher nicht der einzige. Das Thema geht ganz vielen Leuten auf den Geist. Deshalb muss der Austritt jetzt endlich durchgezogen werden.

Wäre es denn sinnvoll, die Briten nach einem Austritt wieder zurück in die EU zu holen?

Ich glaube, eine Rückkehr hat sich erledigt.Ich halte es für sinnvoller, dass wir nach einem Austritt neue Handelsabkommen mit Großbritannien schließen.

Finden Sie es denn nicht schade, dass die Briten die Union verlassen?

Doch, natürlich. Ich finde den Brexit vollkommen falsch. Wir alle profitieren doch von Europa. Wenn das Vereinigte Königreich
austritt, dann wird wieder die Visumspflicht eingeführt, die Austauschprogramme für Studenten, wie etwa Erasmus Plus, sind ebenfalls gefährdet. Das ist doch verrückt. Die jungen Briten, die ich kenne, ärgern sich sehr darüber, dass sie beim Referendum 2016 nicht wählen gegangen sind.

Apropos wählen gehen. In der Vergangenheit haben viele Bürger die Europawahl nicht besonders ernst genommen. Ihr Verband bemüht
sich darum, die Menschen an die Wahlurnen zu bekommen. Warum ist es so wichtig, dieses Mal seine Stimme abzugeben?

Wir dürfen Europa nicht den Nationalisten und Populisten von links und rechts überlassen. Bei der Wahl am 26. Mai steht Europa auf dem Spiel. Darüber müssen sich die Leute im Klaren sein.

Was sagen Sie den Bürgern, die dem europäischen
Projekt skeptisch gegenüberstehen?

Natürlich läuft nicht alles rund. Aber Europa bietet auch so viele Vorteile. Wir können frei reisen, es gibt keine Visumspflicht und keine langen Grenzkontrollen. Firmen haben die Möglichkeit, in jedem
Land der Union zu investieren, Arbeitnehmer
genießen Freizügigkeit. Wir können uns untereinander austauschen, voneinander lernen, in anderen Ländern studieren. Das europäische Projekt hat so viele gute Seiten.

Sie fühlen sich als Europäer?

Ich sage immer, ich bin im Ländle daheim und in Europa zu Hause. Ich glaube, das gilt für viele junge Männer und Frauen meiner Generation. Wir merken, dass wir von Europa profitieren. Meine Oma und mein Opa waren früher übrigens eher EU-kritisch. Inzwischen sehen sie aber auch, dass es Vorteile gibt. Für die Generation meiner Großeltern ist besonders wichtig, dass die EU den Frieden auf dem Kontinent gesichert hat.

Sie sind Kreisvorsitzender der „Jungen Europäer“. Welche Ideen verbergen sich hinter dem Namen?

Wir jungen Europäer sind überparteilich, das ist uns ganz wichtig. Uns gibt es inzwischen in mehr als 30 Ländern. Seit 2017 besteht auch ein Kreisverband in Reutlingen, dessen Vorsitzender ich bin.
Wir sind ein hochmotiviertes Team, das sich für das Thema Europa einsetzt. Die Resonanz ist sehr positiv, wir haben großen Zulauf, über alle Parteigrenzen hinweg. Natürlich sind wir im Verband auch mal unterschiedlicher Meinung, aber uns geht es letztlich allen um die Sache, um Europa. Mein Stellvertreter ist übrigens Mert Akkeçeli. Er gehört den Jusos an, ich der Jungen Union. Das Parteibuch spielt bei unserem Verband aber keine Rolle. Mir ist Überparteilichkeit extrem wichtig. Das schätzen meine Leute im Kreisverband auch sehr. Uns geht es darum, gemeinsame Lösungen für Europa zu finden. Wir wollen ein bürgernahes, friedvolles und föderales Europa. In einer solchen EU sehen wir unsere Zukunft.

Mit welchem Programm zieht Ihr Verband in
den Europawahlkampf?

Wir wollen Europa sozialer machen. Jugendarbeitslosigkeit ist in einigen Länder ein wichtiges Thema, darauf wollen wir reagieren. Wir möchten außerdem, dass die Abgeordneten ein eigenes Initiativrecht erhalten. Das ist eine große Baustelle. Wir sind auch dafür, dass das Prinzip der Einstimmigkeit innerhalb der EU aufgegeben wird. Außerdem möchten
wir, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk das Duell der europäischen Spitzenkandidaten überträgt, so wie vor fünf Jahren zwischen Junker und Schulz.

Wie organisieren Sie Ihren Wahlkampf? Ganz
klassisch oder auch über die sozialen Medien?

Junge Leute erreichen wir vor allem über die sozialen Medien, besonders über Instagram. Wir sind gerade dabei, über diese Kanäle einige Mythen rund um das Thema Europa aufzuklären. Damit die Leute dann gut informiert zur Wahl gehen können.

Wenn es ums Internet geht, dann fällt einem
sofort die Debatte um die so genannten Upload-
Filter ein. Wie denken Sie darüber?

Es ist richtig, dass der Datenschutz europaweit
einheitlich geregelt wird. Für mich ist klar, dass man hier was tun muss.
Dass Deutschland das Datenschutzgesetz noch weiter verschärft, ist allerdings mal wieder typisch. Upload-Filter sind auch aus meiner Sicht fragwürdig. Das frustriert gerade die Jugendlichen sehr. Die Meinung über das Thema ist aber auch unter der jüngeren Generation umstritten. Die einen sind dafür, die anderen sehen davon ihre Freiheit eingeschränkt.

Die Türkei bemüht sich seit Jahrzehnten um
eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Sollte das Land nicht endlich aufgenommen
werden?

Das denke ich nicht. Wer Mitglied der EU sein will, der muss unsere europäischen Werte akzeptieren. Unter Erdogan sehe ich dafür keine Chance.

Außer der Türkei gibt es noch einige andere Nationen, die der europäischen Staatengemeinschaft gerne beitreten wollen, die Balkanländer Albanien und Serbien beispielsweise. Sollte das möglichst schnell geschehen
oder sollte die EU lieber auf die Bremse treten?

Ich denke, wir müssen uns zuerst über unsere Probleme Gedanken machen. Wir haben einige Baustellen, um die wir uns kümmern müssen, etwa die Jugendarbeitslosigkeit. Unser Landesverband unternimmt übrigens jedes Jahr eine Reise nach Osteuropa, damit wir uns ein eigenes Bild machen können. Dieses Jahr geht es in die Ukraine. Im Augenblick bemühen wir uns um einen Gesprächstermin mit dem Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko.

Mit freundlicher Genehmigung für die Veröffentlichung Südwest Presse Metzingen.

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